In der Schule, in der ich arbeitete, war es üblich, den Tag mit einem Morgenkreis zu beginnen und einem Abschlusskreis zu beenden. Dabei hatte ein Kind die Kreisleitung inne und ein zweites verwarnte mittels Verwarnkarten die anderen Kinder, die zu spät kamen, miteinander sprachen oder auf andere Weise „störten“. Ein Kind, das drei Verwarnungen hatte, erhielt eine Strafe. Es musste z.B. die Tische im Essraum abwischen oder dort den Fußboden kehren.
Ich stellte das anfangs gar nicht in Frage, weil es so üblich war. Doch irgendwann später im Schuljahr, kam mir die Verwarnerei komisch vor, denn grundsätzlich hatte ich an dem Verhalten der Kinder nichts auszusetzen. Deshalb stellte ich ihnen eines Morgens die Frage: „Könnt ihr euch vorstellen, bei mir am Draußentag im Morgen- und Abschlusskreis auf Verwarnungen zu verzichten?“ Es wurde schlagartig mucksmäuschenstill. Noch viel stiller als sonst. Die Kinder dachten nach. Die Frage war für sie ungewöhnlich.
Ein Kind aus der zweiten Klasse schüttelte den Kopf: „Dann kann ja jeder machen, was er will.“ Ich entgegnete: „Das glaube ich nicht, ich kenne euch und weiß, dass ihr gespannt seid und zuhört, wenn wir besprechen, was wir an diesem Tag machen werden.“
Ein Mädchen aus der 4. Klasse sagte: „Ja, ich kann mir vorstellen, dass wir uns nicht mehr verwarnen, denn mit der Verwarnung fängt der Tag schon mit schlechter Laune an.“ (Sie war eine sehr zuverlässige Schülerin und kam morgens mit ihrer jüngeren Schwester gemeinsam zur Schule. Die Kleine wollte manchmal nicht so recht und dann kam auch die Große zu spät, die ja den Druck der Verwarnung schon auf dem Schulweg im Rücken hatte.)
Ein Kind aus der ersten Klasse rechnete ganz pragmatisch: „Es nützt ja nichts. Ich brauche drei Verwarnungen, damit ich einen Dienst übernehmen soll, aber ich bekomme vielleicht eine oder zwei. Zwei Verwarnungen bringt gar nichts.“ Ich antwortete: „Stimmt. Und von mir bekommt ihr sowieso keine.“ Diese Schülerin drückte damit aus, dass sie ein- oder zweimal Quatsch machen kann, was keine Konsequenz nach sich zieht und dann nicht mehr, weil sie ja nicht blöd ist und eine Strafe riskiert. Das bringen wir Erwachsenen also Kindern bei: Innerhalb bestimmter Grenzen ist Blödsinnmachen möglich, danach gibt es eine Strafe. In ihrem Verhalten berechnen die Kinder das. Sie lernen und erfahren dann nicht, dass ein positives Verhalten für sie selbst sinnvoll ist, sondern sie erlernen kooperatives Verhalten ausschließlich mit Blick auf eine Strafgrenze.
Trotzdem gab es bei einigen Schülern noch skeptische Blicke. Ich fragte: „Nützen Strafen etwas?“ Ein Kind aus der dritten Klasse antwortete: „Nein, denn wenn sie was nützen würden, hätten die aus der 4. ja gar keine mehr.“ Die Logik dahinter lautet: In der ersten Klasse erhält man viele Verwarnungen und Strafen und dann immer weniger bis zur vierten Klasse, da hat man es dann gelernt und erhält keine mehr. Und dass das so nicht ist, wissen Kinder. Nur wir Erwachsenen meinen, dass wir mit Strafen etwas Positives ausrichten können.
Die Kinder beschlossen in einer Abstimmung, künftig am Draußentag im Morgen- und Abschlusskreis auf Verwarnungen zu verzichten.
Ihre Aufmerksamkeit im Morgenkreis ließ deshalb nicht nach und an ihrem kooperativen Verhalten änderte sich nichts zum Negativen.